Die innere Stimme – Briefe an Lille

Sonntag, 3. Oktober 2021

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Die innere Stimme – Briefe an Lille



Mangaka: Racami

Kategorie: Josei
Alter: 15+
Genre: Drama, Slice of Life
Anzahl der Bände: Einzelband
 

Verlag: altraverse
ISBN: 978-3-96358-318-0
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Momo ist alles andere als glücklich, als eines Tages die neue Mitbewohnerin in ihrem Internatszimmer steht. Sie ist fest dazu entschlossen, die fröhliche Lille prompt wieder los zu werden. Allerdings schafft diese es, Momo mit ihrer bezaubernden und etwas mysteriösen Art schnell für sich zu gewinnen. Als plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, Briefe an Lille auftauchen, ist Momos Neugier geweckt.
 
Ich finde es wirklich klasse, dass Racamis Werk über altraverse veröffentlicht wurde und so deutsche Mangaka mehr Sichtbarkeit erhalten. Die Zeichnungen und das Charakterdesign haben mir gut gefallen und fangen die Stimmung der Story und die Emotionen der Charaktere wunderbar ein. Das Cover und die Farbseiten sind wunderschön und auch die hübschen Illustrationen als Extras sind tolle Beigaben. Ich habe bereits ihr Werk ‚Zuckerwasser‘ gekauft und finde es beeindruckend, dass sie sich in ihrem Storytelling nochmal stark verbessert hat.  
 
 

⚠️»Ab hier folgen Spoiler zur Story«⚠️



Der Manga greift ein wichtiges und gleichzeitiges schwieriges Thema auf, indem er psychische Störungen thematisiert (hier vor allem die dissoziative Identitätsstörung der Protagonistin). Grundsätzlich finde ich das sehr wichtig. Was ich eher schwierig finde, ist die undifferenzierte Art der Darstellung ohne einen Disclaimer. Natürlich gibt es viele Manga, die sich schweren, problembehafteten oder traumatischen Themen widmen und dabei nicht realitätsnah sind.
Die Geschichte ist hier aber so inszeniert, dass sie wahrscheinlich auf die meisten LeserInnen sehr authentisch wirkt und somit hätte ich mir einen kurzen Disclaimer am Anfang gewünscht, dass es sich bei diesem Werk um reine Fiktion handelt und die gezeigten Störungsbilder nicht korrekt abgebildet sind. Leider wirft der Manga ohne diesen, ein falsches, teilweise verniedlichendes Bild auf die Störung und seinen Erwerb. Vielleicht wirkt es beim Lesen dieser Rezension, als sei ich zu kleinlich oder pedantisch was das Thema angeht, aber als Jemand, der in diesem Schwerpunkt studierte, mit zwei Menschen, mit genau diesem Störungsbild gearbeitet hat, und jetzt einen Fachbereich leite, der sich mit psychischen Störungen befasst, fand ich die Darstellung beim Lesen ohne den Disclaimer eher schwierig. Aus diesem Grund habe ich mich auch dazu entschlossen eine eher umfangreichere Rezension zu diesem Werk zu schreiben.
 

Der ICD-10 Kapitel V (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) kategorisiert die dissoziative Persönlichkeitsstörung in seinen klinisch-diagnostischen Leitlinien unter dem Code F44.9 ‚nicht näher bezeichnet‘ ein. Die Entstehungsursache dieser Störung geht auf schwerste traumatische Ereignisse in der frühen Kindheit zurück. Lilles DIS tritt aber zum ersten Mal auf, als sie als Jugendliche mit dem Gedanken spielt, sich umzubringen. Zugegeben, erfährt man nicht, was sie dazu verleitet hat, aber dennoch ist es fachlich schwer nachvollziehbar. Auch ist mir kein Fall bekannt, in dem ein Betroffener seiner DIS gegenüber zu stehen glaubte und sie quasi als anderen Menschen vor sich sah. Auch hier nimmt sich der Manga eine gewisse künstlerische Freiheit. In der Regel übernehmen die DIS (meist sind es mehrere Persönlichkeiten, selten nur eine) die Kontrolle über die Betroffenen, wenn bestimmte Triggerpunkte angeregt werden. Ich kann dazu aus persönlicher Erfahrung sagen, dass ein solches Erlebnis für Außenstehende faszinierend und beängstigend zugleich ist. Betroffene haben in der Regel einen hohen Leidensdruck, durch verschiedene Begleitsymptome wie Zwangsstörungen, Depression, etc. Lille ist aber das Gegenteil. 

 

Ihr scheint es in ihrem Alltag grundsätzlich gut zu gehen. Sie ist fröhlich, offen und geht aufgeschlossen auf andere zu. Um es kurz zu fassen: auf mich wirkte es, als wäre Lilles Störung ein interessanter Twist für die Story, was grundsätzlich auch eine spannende Idee ist. Wie bereits geschrieben, wäre für mich ein Disclaimer am Anfang notwendig gewesen, um Fiktion von realen Störungsbildern klar abzugrenzen. Dennoch finde ich es toll, dass Racami sich an dieses Thema herangetraut hat und das Thema der psychischen Störungen aufgegriffen hat.